Vorbedingung war, sich freizumachen von der herkömmlichen Art, einen Film zu sehen, sich freizumachen von der üblichen Form des kommerziellen Kinos. Die Anstrengung, die elf bzw. zwölf in dreieinhalb Stunden gezeigten "Underground"-Filme im wahrsten Wortsinn zu erleben, sinnlich, nicht rational wahrzunehmen, ein völlig neues Sehgefühl zu entwickeln, nahm jedoch einige der über 600 Besucher des Filmabends im AFK-Filmstudio an der Uni derart mit, daß sie bereits nach dem achten, neunten Streifen, die Säle verließen. Pannen und Pfiffe zeigten, daß Technik und Bedingungen dem Medium nicht ganz gewachsen waren. Die untergründige Happening-Stimmung verflog zudem bereits nach dem zweiten Streifen.
Apropos Publikum: so progressiv, wie es das "andere" Kino nun mal verlangt und ausdrückt, waren die meisten gar nicht. Offenheit und Aufgeschlossenheit für das filmische Experiment war verlangt - statt dessen scheint es wohl doch nur der Snobismus gewesen sein, der die meisten zur Vorführung gelockt hatte, die befangene Neugierde "up to date" zu sein.
Die drei amerikanischen Filme "Breathdeath"von Stan Vanderbeek, "Bliss" von Gregory Markopoulos und "Watts Towers" von Gerald L. Varney, zeichnen sich durch eine sehr starke, fast schmerzliche Abstraktion aus. Mit den herkömmlichen Kategorien der Filmkritik ist ihnen nicht gerecht zu werden. Das Arbeiten der "film-makers" mit Mehrfachbelichtungen, Schnitten, Collagen, Bildfeldaufteilungen und dem Verzicht auf Personen und Handlung prägen diese Streifen. Man muß sich diesem Kaleidoskop der Eindrücke hingeben, die in ihrer Vielfalt komplex sind. Am ehesten sind sie wohl zu vergleichen mit den Büchern "Stromlinienbaby" von Tom Wolfe und "Unterwegs" von Jack Kerouac: auch hier die Verarbeitung der Realität in einer völlig subjektiven weise.
Die deutschen Filmemacher hingegen beziehen ihre Motive hauptsächlich von Personen und ihren Handlungen (auch Puppen sind genehmigt). An die Stelle des Gleichzeitigkeit von optischen Eindrücken tritt die minuziöse Beobachtung von Personen, die Studie von Menschen und Bewegungen, die am Schneidetisch bei manchen erst zerlegt und nach rhythmischen, entscheidende Sequenzen zusammengesetzt wird. Andere Filmer sind konsequenter, lassen ihren Film ohne Schnitt. So Lutz Mommartz (von Beruf Bau-Oberinspektor) mit "Selbstschüssen" und "Die Treppe" (auf die konsequenterweise "Wege zum Nachbarn" hätte folgen sollen), Hellmuth Costards "Warum hast du mich wachgeküßt", Thomas Strucks "Der warme Punkt", daneben Winzentsens "Erlebnisse einer Puppe", Winkelmanns "31 Sprünge" und Werner Nekes "Jüm-Jüm". Wobei "Jüm-Jüm" und Lena Försters fotographisches Experiment "Licht im Raum" zweifellos die ästhetischsten Filme des Abends waren.
Man wird lernen müssen, man muß umdenken, das rationale Denken während der Vorführung abschalten, sich dem Film völlig hingeben, wenn man sich diese ernst zu nehmenden Experimente zu Gemüte führt. Einmal ansehen genügt nicht. Immerhin: der Abend des AFK-Filmstudios, die Repräsentativschau war, zusammen mit der erläuternden Dokumentation, eine beachtliche Hilfe, alte Klischees abzulegen und neue Perspektiven zu gewinnen, sich in die neuen Film-Kategorien einzuleben.
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(Quelle: BNN, Nr. 19, 23.1.1969, S. 13)