„In meinem Lande Kritik zu üben, fällt nicht schwer. Manchmal sprechen Minister von ihren eigenen Fehlern mit einer Distanz, als sprächen sie von den Fehlern anderer. Kritik zu üben ist geradezu der beste Weg den Status quo zu erhalten. Das Problem ist, konstruktiv zu sein, aber nicht im alten didaktische Sinne, sondern wirklich auf eine schöpferische Weise”. Das sind Worte des jugoslawischen Filmregisseurs Dusan Maravejev, der anläßlich des Karlsruher Festivals „Junger jugoslawische Film” am Wochenende in Karlsruhe weilte. Maravejev wurde international bekannt durch seine beiden Filme „Der Mensch ist kein Vogel” und „Ein Liebesfall”.


Dusan MaravejevÖstliche Filmemacher finden in westeuropäischen Cineastenkreisen Vertrauensvorschuß. Ihren Filmen wird zunächst aus „geographische” Gesichtspunkten außerordentliche Bedeutung zugemessen. Der Regisseur ist ohnehin der zwischen Politik und Gesellschaft gefesselte Märtyrer. Dem redegewandten und die Reaktionen seiner Umgebung unablässig belauernden Maravejev, gelang es im Gespräch mit den Diskutanten des akademischen Filmclubs in Karlsruhe dieses Klischee auszuräumen: „Ich versuche Filme zu machen mit einer sehr ambivalenten Qualität, Filme mit offenen Stellen, so daß jeder in den Film eintreten, sich in ihn verwickeln lassen, etwas daraus entnehmen kann.”

Daß es mit dem Eintreten in seine Filme nicht ganz so einfach ist, wie er es darstellte, beweist die Skepsis, die seinen Filmen in der jugoslawischen Heimat entgegengebracht wird. Die einen nämlich sind der Meinung Maravejevs Filme verherrlichten den Sozialismus, die anderen sagen, er verspotte ihn. Versöhnlichere Geister sind der Ansicht, das Mißverständnis hätte in  dem geringfügigen persönlichen Engagement des Regisseurs seine Ursache, der dem Publikum gewissermaßen nur die freie Auswahl von Möglichkeiten und Zusammenhängen vorlegt. Zu der sich daraus entwickelnden dramaturgischen Verfremdung zwischen Mensch und Politik sagt Maravejev: „Diese Distanz zwischen dem Menschen und der Politik ist ein fortbestehendes Charakteristikum der Stellung des Individuums. Zwar ist jeder politisch, aber die politischen Elemente sind nicht vollkommen integriert. Es gibt einen permanenten Konflikt zwischen persönlichen Motiven und den politischen Positionen des Individuums.”

Die Persönlichkeitsspaltung zwischen politischer Überzeugung und Schwejkschem Selbsterhaltungsinstinkt, die sich durch die jüngsten politische Ereignisse im jugoslawischen Bewußtsein vertieft zu haben scheint, eröffnet genug Raum für literarische Farce. Auch Maravejev hat sich auf die gewiß oft wiederkehrende Frage nach der sozialistischen Gesellschaft eine Antwort präpariert: „Die sozilistische Gesellschaft begreift sich selbst als die Gesellschaft, die den technischen und quantitativen Blick auf die Menschen überwindet. Zugleich leidet die sozilistische Gesellschaft unter derselben Phraseologie, derselben Demagogie und theoretischen Abstraktionen wie die kapitalistische. Wenn wir die Möglichkeit einer neuen Gesellschaft diskutieren wollen, müssen wir zunächst die Möglichkeiten einer Gesellschaft diskutieren, in der die Liebe an erster Stelle steht.”

Diskutieren kommt für den Jugoslawen Maravejev gleich nach Filme machen. So wurde denn auch in der Karlsruher Universität gleich nach der Vorstellung seines Filmes „Der Mensch ist kein Vogel” diskutiert. Diskutieren will er während seines Aufenthalts in verschiedenen westdeutschen Städten auch mit Daniel Cohn-Bendit. Maravejev und Cohn-Bendit haben gemeinsame Filmpläne.


-ber-


(BNN, Nr. 97, 27.4.1970, S. 10)

Wir bei Facebook: